Meine Begegnung mit Eisenstein

Tatiana Brandrup

Mich interessiert an Sergei Eisenstein sein Leben und seine Arbeit als Künstler in einem totalitären Regime. Mich bewegt seine Neugier und seine Weltoffenheit, die dem ihm umgebenden System entgegenstand. Als Halb-Russin bin ich im Westen aufgewachsen, in einer vom eisernen Vorhang zweigeteilten Welt. Sie war geprägt von den Begriffen Kommunismus und Kapitalismus, Osten und Westen, Diktatur und Freiheit. Es schienen polare Gegensätze zu sein, die keine Schnittmenge hatten. Sergei Eisenstein musste sich zwischen diesen Gegensätzen bewegen. Er war gezwungen, manchmal schmerzhafte Kompromisse zu machen und sich mit der Macht zu arrangieren. Dennoch hat er für sich Freiräume geschaffen – in seiner Kunst, in seiner theoretischen Arbeit und in seiner Wohnung. Diese Freiräume zu verstehen, ist für mich inspirierend. Sie zeigen, dass in scheinbar dualen Systemen oft doch etwas Drittes möglich ist. Angesichts der zunehmenden politischen Polarisierung ist dies auch heute noch aktuell.

 

 

Kritiker*innen Sergei Eisensteins werfen ihm vor, ein Propaganda-Regisseur Stalins gewesen zu sein, der manipulative Filme gedreht hat.  Meiner Meinung nach basiert diese Perspektive auf einem unvollständigen Bild seiner Arbeit und seiner Biographie. Andere sehen ihn als irrelevant – Schnee von gestern. Was vielen nicht bewusst ist – die sowjetische Ästhetik dieser Zeit, die Filme von Eisenstein, die Fotos von Alexandr Rodchenko, die Arbeiten von El Lissitzky und anderer Konstruktivisten beeinflussen die Medien weltweit bis heute. Die Bildgestaltung von Hollywood-Filmen, YouTube- und Werbeclips nutzen u.a. die Art der Bildkomposition, die Eisenstein erfunden hat – und natürlich seine Montage-Technik. Wenn ich Teenager frage, ob sie den Namen Sergei Eisenstein schon mal gehört haben, verneinen sie. Studierende in meinen Drehbuch-Seminaren kannten Eisenstein, empfanden seine Filme aber als lästige Pflicht. Für sie waren das „langweilige russische Propaganda-Filme“. In meinem Freundeskreis können nur wenige den Namen einordnen – selbst diejenigen nicht, die sich viel mit Kultur beschäftigen. Wenn ich sie frage, welchen Film von Eisenstein sie kennen, erinnern sie sich meistens an die Treppenszene aus Panzerkreuzer Potemkin oder Oktober, den sie auf ARTE im Spätprogramm gesehen haben. Andere Filme sind ihnen unbekannt. In der älteren Generation, z.B. im Umfeld meiner Eltern, erinnern sich einige an Eisensteins Filme als Beispiele für wichtige historische Filme über Russland. Doch die wenigsten von ihnen haben Lust, sich einen Eisenstein-Film anzusehen, weil sie die sogenannte „kommunistische Botschaft“ nicht mögen, die sie damit verbinden.

Filmempfehlungen:

Für TV Serien-Fans:

Nach 30 Folgen der neusten High End TV Serie aus den USA sind wir an tolle Dialoge und Plots gewöhnt. In Eisensteins Filmen sprechen die Bilder und lassen Raum für unsere eigene Phantasie. Filmempfehlung: Die Generallinie

Für Social-Media-Nutzer*innen:

Wir sind umgeben von Film-Clips, auf YouTube, Twitter, Facebook. Fast alle nutzen Elemente der „Film-Montage“, die Sergei Eisenstein vor fast 100 Jahren erfunden hat. In Eisensteins Filmen erkennt man, wie zwei Bilder zusammen etwas Drittes ergeben, also wie er sie „montiert“ hat. Es lohnt sich, diese Struktur zu verstehen, um die Bilder um uns herum besser lesen zu können, und zu erkennen, ob sie die Wahrheit spiegeln oder sie verbiegen. Filmempfehlung: Oktober und Potemkin

Für Musik-Liebende:

Die Filmmusik von Prokofieff ist wunderschön, tieftraurig und großartig. Filmempfehlung: Alexander Newski

Für Ästhetiker*innen:

Einige der Bildkompositionen im Eisensteins Filmen gehören für mich zu den schönsten der Filmgeschichte.

Filmempfehlung: Iwan der Schreckliche I und II 

Für junge und junggebliebene Weltveränder*innen:

Filme über Revolution machen Spaß und regen zum Nachdenken darüber an, was Gerechtigkeit ist. Viele Szenen aus Eisensteins Filmen sind heute so brisant wie damals. Filmempfehlung: Streik