Projektgenese
Tatiana Brandrup
Dieses Projekt entstand aus einer Kette von wunderbaren Begegnungen – mit Naum und Vera Kleiman, mit Katrin Springer, später mit Anna Luise Kiss, 2020 mit unserem tollen Team – und, immer wieder, mit Sergei Eisenstein.
2009 im Dezember lernte ich Naum Kleiman kennen und besuchte die Eisenstein Wohnung zum ersten Mal. Damals schrieb ich meine Eindrücke nieder:
Im Zentrum von Moskau, zwischen McDonald‘s und einem monströsen Hochhaus, dessen Fassade als Lichtinstallation aus Regenbogenfarben leuchtet, führt eine dunkle Toreinfahrt zu grauen Wohnhäusern. Kein Schild an der Tür weist den Weg. Es ist eine Adresse für Eingeweihte: die Wohnung einer der Gründerväter des Weltkinos. Ein schäbiges Treppenhaus. Im zweiten Stock öffnete Naum Kleiman die Tür. Von einer Sekunde zur anderen befand ich mich im Jahr 1935: Bücher, Notizen und Skizzen Eisensteins zu Filmen, Bilder, mexikanische Teppiche und japanische Theatermasken bedecken die Wände von der Decke bis zum Boden.
Zwischen Bauhaus-Stühlen war der Tisch gedeckt. Es wirkte, als käme Sergei Eisenstein gleich aus der Küche. Im Gästebuch hatten sich seit 40 Jahren Filmschaffende der Welt eingetragen: Douglas Sirk und Claude Chabrol, Wim Wenders und Volker Schlöndorff. Wir saßen auf Eisensteins Stühlen und tranken Tee. Die äußere Welt rückte in die Ferne. Wir redeten bis spät in die Nacht über Film, Gesellschaft, Russland… Unser Gespräch wurde, so schien es, zu einer kulturhistorischen Reise um den gesamten Erdball. Aus dieser Begegnung entstand der Film Cinema: A Public Affair, den ich mit Katrin Springer als Produzentin realisierte. Der Film feierte auf der Berlinale 2015 Premiere.
Wir fürchteten, die Eisenstein-Wohnung könnte, genau wie das Moskauer Filmmuseum, geschlossen werden. Ich hatte dort viel Material gedreht, das ich nicht verwendet hatte und überlegte, wie ich es sinnvoll nutzen könnte. Katrin und ich entwickelten eine Idee, die uns damals recht verrückt erschien: Die Wohnung mit Hilfe des gedrehten Materials in VR nachzubauen und sie mit einer Webseite zu Sergei Eisenstein zu verbinden. Doch zunächst fehlte es uns für dieses Projekt an Mitteln und Partner*innen. 2018 wurde die Eisenstein-Wohnung tatsächlich geschlossen. Eine Welt ging unter.
Durch unsere Begegnung mit Anna Luise Kiss eröffnete sich unerwartet eine neue Tür: Die Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF wurde zum Partner für unsere Idee. So entstand das Konzept für das Forschungsprojekt Kollisionen. Dank der Unterstützung des EFRE Fonds konnten wir in Mai 2020 mit der Arbeit daran beginnen.
Es war merkwürdig, dass dieses Projekt unter den extremen Bedingungen der Pandemie startete. Plötzlich rückte für viele von uns die äußere Welt in die Ferne. Umso mehr freut es mich, dass unser Projekt die Basis dafür legt, dass Menschen überall auf der Welt hoffentlich in der nahen Zukunft die Eisenstein-Wohnung virtuell besuchen können. Dort erwarten sie unterschiedlichste Entdeckungen: zu Film, Gesellschaft, zu Russland und vielleicht auch eine kulturhistorische Reise um den gesamten Erdball.