Meine Begegnung mit Eisenstein

Vera Rumyantseva

Als ich klein war, haben wir mit meinen Eltern zu dritt in einem Zimmer gelebt. Wir hatten nur ein Bücherregal und mein Bett stand direkt daneben. Ich war ungefähr vier Jahre alt und ich nahm ein Buch in die Hand. Auf dem Umschlag war eine merkwürdige Zeichnung von einem Mann in Pose und ich war sehr verwundert, dass man so zeichnen kann. Das war meine erste Begegnung mit ihm, obwohl ich gar nicht wusste, dass die Zeichnung von Eisenstein ist. 1971 gab es auf dem Regal sechs Bände: Sämtliche Werke des Regisseurs, jeder Band in einer anderen Farbe, mit einer anderen Zeichnung auf dem Umschlag, aber mit dem gleichen Namen auf dem Rücken: Eisenstein.

 

Seine Filme habe ich als Kind im Fernsehen geschaut. An Alexander Newski erinnere ich mich, besonders an eine Nahaufnahme. Ich habe mich anders daran erinnert, als Eisenstein sie eigentlich gedreht hatte – da war das Bild von nackten Füßen, die über die Erde stampfen. Später habe ich verstanden, dass dies der Moment ist, in dem der Fürst die Bauern ruft. Die Bauern kommen aus der Erde. Ich habe mich an diesen emotionalen Moment erinnert. Die Musik zusammen mit der Nahaufnahme der Erde hat bei mir den Eindruck erweckt, dass die Erde größer als der Himmel wirkt und dass die Füße über die Erde stampfen mit dem Himmel als Hintergrund.

 

Eisenstein hat nach archetypischen Bildern gesucht, die das Unterbewusste der Menschen erreichen. Tatsächlich haben diese archaischen Bilder eine Wirkung auf das Bewusstsein. Schon ein Kind spürt das Drama eines Bildes oder das Lustige daran, ohne unbedingt den Zusammenhang zu verstehen. Als ich erwachsen wurde rezipierte ich Eisenstein anders, weil meine Generation sich von Ideologien befreit hatte. Als ich mit 22 alle seine Filme anschaute, haben wir an vielen Stellen von Oktober gelacht – genau an den Stellen, an denen man auch lachen sollte.

Wir haben zum ersten Mal verstanden, dass dies nicht eine Schulvorführung über die Revolution, sondern eine bittere Tragikomödie darüber ist.

Eisenstein und seine Zeitgenossen sahen auch tragische Aspekte der Folgen der Oktoberrevolution: er hat den zweiten Teil des Drehbuchs über den Bürgerkrieg in Russland geschrieben, es war aber damals unmöglich, diesen Teil zu filmen.
Und der glorreiche Mythos der Revolution kam später, auch teilweise auf Filmen basierend – die wurden aber in den 1930er Jahre gedreht.
Wir, als sowjetische Zuschauer, waren von der Ideologie verblendet und haben Oktober auch in diesem Kontext gesehen. Später kam wieder ein besseres Verständnis, als wir, die Generation der Perestroika, ihn mit freiem Blick gesehen haben. Und jetzt, die Generation der Zeh-ner und zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts sieht Eisenstein wieder anders. Es sind 100 Jahre vergangen und ich habe den Eindruck, dass sie ihn jetzt eher als einen von sich akzeptieren.

 

Wir entdecken jetzt die Wohnung Eisensteins als einen Schutzraum inmitten einer Welt in der er sich fremd fühlte. Er hat sich ein Universum gebaut, das ihm ein Gefühl von Heimat gab. Seine Heimat, das war die Weltkultur. Dort fühlte er sich zu Hause. Das war kein Elfenbeinturm. Es war die ganze Welt, aber inmitten des stalinistischen Russlands.